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Lernen entsteht durch Irritation

Veröffentlicht am
22.10.2025

Irritation als Ausgangspunkt für Lernen

„Lernen entsteht durch Irritation.“

Dieser Satz klingt unbequem – und genau das ist seine Wahrheit. Solange alles rund läuft, solange unsere Modelle der Welt zu funktionieren scheinen, gibt es keinen Grund, sie zu hinterfragen. Erst wenn etwas nicht mehr passt – eine Methode, die nicht greift, ein Meeting, das nichts mehr bewegt, ein Ziel, das sinnlos wirkt – beginnt Lernen.

Der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson beschrieb Lernen als Prozess von „Lernen über das Lernen“ – er unterschied verschiedene Lernstufen (Learning I, II, III), bei denen nicht nur Verhalten, sondern auch die zugrunde liegenden Muster und Denkrahmen verändert werden (Bateson, 1972). Genau das geschieht, wenn Irritation auftritt: Sie zwingt uns, nicht nur anders zu handeln, sondern anders zu denken über unser Handeln.

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann beschrieb „Irritation“ als die Störung eines Systems durch eine Umweltbeobachtung, die nicht in die eigene Logik passt (Luhmann, 1984). Zusammen gedacht zeigen Bateson und Luhmann: Lernen geschieht nicht durch das bloße Hinzufügen von Wissen, sondern durch die Veränderung von Bedeutungsstrukturen.

In Organisationen passiert das ständig: Teams, die gewohnt sind, in KPIs zu denken („Wie viel Umsatz?“), werden plötzlich mit OKR konfrontiert und sollen „outcome-orientiert“ arbeiten („Was hat sich für den Kunden verändert?“).

Das irritiert – und genau deshalb ist OKR kein reines Steuerungssystem, sondern ein Lernsystem.

Wenn Denkmuster wanken – Lernen beginnt

Lernen ist kein linearer Prozess, sondern ein Sprung in Unsicherheit. Der Psychologe Jean Piaget nannte das „kognitive Dissonanz“: Wenn neue Erfahrungen nicht mehr zu unseren bisherigen Schemata passen, entsteht Spannung – und die führt zu Adaptation, also Lernen (Piaget, 1976).

In Organisationen zeigt sich das ganz konkret:

  • Wenn ein Team erkennt, dass das Erreichen aller KPIs trotzdem keine zufriedenen Kunden erzeugt.
  • Wenn Führungskräfte merken, dass Kontrolle nicht mehr funktioniert.
  • Wenn Mitarbeiter:innen plötzlich selbst Ziele definieren sollen – und sich fragen: „Darf ich das überhaupt?“

Diese Irritationen sind keine Störungen, sondern Einladungen. Sie zeigen, dass ein System an seine Grenze stößt. Und genau dort beginnt Entwicklung.

OKR als institutionalisiertes Irritationssystem

OKR ist in vieler Hinsicht ein bewusst irritierendes Framework. Es zwingt Organisationen dazu, die vertrauten Muster des Maschinendenkens – Plan → Ausführung → Kontrolle – zu verlassen und in systemische Schleifen einzutreten: Beobachten → Hypothesen bilden → Experimentieren → Lernen.

Schauen wir uns das an einigen Beispielen an:

KPI vs. Lead Measures (Key Results)

Klassische KPIs messen die Vergangenheit: Umsatz, Conversion, Durchlaufzeiten. Sie zeigen, was war.

Lead Measures bzw. Key Results in OKR sind hingegen führende Indikatoren – sie messen, ob wir uns in Richtung des gewünschten Outcomes bewegen.

Das irritiert, weil es Kontrolle durch Hypothesen ersetzt:

„Wenn wir die Zahl der aktiven Nutzer erhöhen, dann verbessern wir die Kundenbindung.“
Und wenn nicht? Dann war’s ein Irrtum – und wir haben gelernt.

Damit wird aus „Zielerreichung“ ein Lernprozess.

Output vs. Outcome

Die meisten Organisationen sind Output-getrieben: Features, Projekte, Releases.

OKR verschiebt die Perspektive auf Outcome – die Veränderung im Verhalten oder Zustand der Nutzer:innen.

Das ist irritierend, weil man plötzlich nicht mehr tun, sondern verstehen muss:

Nicht: „Wir liefern 10 neue Features.“
Sondern: „Unsere Kund:innen lösen 30 % mehr Aufgaben selbstständig.“

Ein einfaches Beispiel aus der Praxis:

Ein Team entwickelt eine neue Suchfunktion. Früher wäre der Erfolg gemessen worden an „Feature live“. Mit OKR wird gefragt: „Hat sich das Suchverhalten verbessert?“ – und plötzlich wird aus Erfolgsmessung Lernen über Nutzerverhalten.

Strict-Cascading vs. Loosely-Coupled

Das klassische Top-down-Zielsystem („strict-cascading“) erzeugt Ordnung – aber kein Lernen. Jede Irritation wird oben gefiltert, bevor sie unten ankommt.

In loosely-coupled Systemen – wie OKR sie fördern will – darf es dagegen Reibung geben. Teams entwickeln eigene Ziele, die an die gemeinsame Vision andocken, aber nicht mechanisch ableitbar sind.

Diese Kopplung durch Sinn statt Kontrolle erlaubt Lernen auf allen Ebenen.

Beispiel:

Ein Unternehmensziel lautet: „Kundenzufriedenheit erhöhen.“

Das Marketing-Team formuliert: „Wir verstehen, was Kund:innen wirklich wollen.“

Das Produkt-Team: „Wir reduzieren Supportanfragen um 20 %.“

Das Sales-Team: „Wir schließen nur Deals, die zur Zielgruppe passen.“

Diese Vielfalt erzeugt Reibung – und genau daraus entsteht organisationales Lernen.

Motivation: Von Transaktion zu Transformation

Irritation wirkt nur, wenn Menschen den Mut haben, sie auszuhalten.

Das setzt eine Kultur voraus, in der Fehler, Fragen und Zweifel erlaubt sind.

Die Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan (1985) beschreibt drei Grundbedürfnisse, die intrinsische Motivation ermöglichen:

  • Autonomie: Ich darf entscheiden.
  • Kompetenz: Ich kann etwas bewirken.
  • Verbundenheit: Ich gehöre dazu.

Daniel Pink erweitert diese Theorie um ein viertes Element:

  • Purpose: Ich arbeite für etwas, das größer ist als ich selbst.

Purpose gibt der Arbeit Sinn und Richtung – er verbindet individuelles Handeln mit einem übergeordneten Beitrag. Menschen, die verstehen, wofür sie etwas tun, brauchen weniger Kontrolle und mehr Vertrauen.

OKR schafft Rahmenbedingungen, in denen diese Bedürfnisse erfüllt werden können – wenn Führung nicht transaktional (Belohnung/Bestrafung), sondern transformativ wirkt.

Transformative Führung bedeutet, Sinn zu vermitteln und Vertrauen in die Lernfähigkeit des Teams zu haben.

Ein Beispiel:

  • Transaktional: „Wenn ihr das Ziel erreicht, gibt’s einen Bonus.“
  • Transformativ: „Wenn ihr herausfindet, was den größten Kundennutzen stiftet, habt ihr unsere Organisation verändert.“

Irritation ohne psychologische Sicherheit führt zu Angst.

Irritation mit Sicherheit führt zu Lernen.

Maschinendenken vs. Systemisches Denken

Viele Organisationen versuchen Veränderung mit den Werkzeugen der Stabilität zu steuern.

Das ist, als würdest Du ein Segelboot mit einem Auto-Armaturenbrett navigieren.

Maschinendenken basiert auf Ursache-Wirkung-Logik:

Wenn A, dann B. Wenn wir Ziele klar vorgeben, werden sie erreicht.

Das funktioniert in komplizierten, aber nicht in komplexen Systemen – also dort, wo Menschen interagieren, lernen, sich anpassen.

Das systemtheoretische Denken (Luhmann, 1991; Senge, 1990) betrachtet Organisationen als lebende Systeme, die nur durch Irritation lernen können. Bateson würde sagen: Wirkliches Lernen entsteht erst dann, wenn ein System seine eigenen Regeln des Lernens reflektiert – also vom Lernen erster Ordnung (Fehler korrigieren) zum Lernen zweiter Ordnung (die Annahmen hinter den Fehlern hinterfragen) übergeht.

Führung heißt dann nicht: „die Maschine optimieren“, sondern: „Beobachtungsräume öffnen“. OKR passt perfekt in dieses Denken: Es institutionalisiert Reflexion.

Jedes Review ist eine Rückkopplungsschleife, jedes Retrospektive eine Systembeobachtung zweiter Ordnung.

Wir lernen nicht über die Welt – wir lernen in ihr.
Wir steuern nicht Menschen – wir gestalten Rahmen für Sinn und Lernen.

Raum, Atmosphäre, Kontext – Die stillen Lehrer

Luhmann sagte: „Systeme lernen, wenn sie irritiert werden, aber sie entscheiden selbst, was sie als relevant empfinden.“

Deshalb spielt der Kontext eine riesige Rolle.

Auch der physische Raum kann irritieren:

Wenn ein Workshop plötzlich im Kreis stattfindet statt im Konferenzraum, wenn Post-its auf Tischen statt PowerPoint an Wänden liegen, wenn Führungskräfte nicht mehr vorne stehen, sondern dabei sitzen – dann beginnt ein neues Muster.

Solche kleinen Veränderungen sind mächtiger, als sie scheinen.

Sie signalisieren: Hier darfst Du denken, statt nur auszuführen.

Hier darfst Du Dich wundern. Und Lernen beginnt immer mit Verwunderung.

Fazit – Lernen braucht Störung

Lernen geschieht nicht durch Planung, sondern durch Störung.

Nicht durch Kontrolle, sondern durch Reflexion.

Nicht durch Ziele, sondern durch Sinn.

OKR ist kein magisches Tool – aber ein Rahmen für produktive Irritation.

Es stellt Fragen, wo bisher Antworten waren. Es erzeugt Reibung, wo früher Harmonie herrschte. Und es macht sichtbar, was wirklich wichtig ist: die Fähigkeit, sich selbst zu verändern.

„Wir neigen dazu, das Unbekannte sofort zu entschärfen.
Wenn wir diesen Reflex bemerken, wächst die Möglichkeit, tatsächlich zu lernen.“

Oder, in OKR-Sprache gesagt:

Nur wer seine Key Results regelmäßig irritiert, findet neue Outcomes.

Literaturhinweise (Auswahl)

  • Argyris, C. & Schön, D. (1978): Organizational Learning: A Theory of Action Perspective. Addison-Wesley.
  • Bateson, G. (1972): Steps to an Ecology of Mind. Chandler Publishing.
  • Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1985): Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior. Springer.
  • Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Suhrkamp.
  • Piaget, J. (1976): The Grasp of Consciousness: Action and Concept in the Young Child. Harvard University Press.
  • Pink, D. H. (2009): Drive: The Surprising Truth About What Motivates Us. Riverhead Books.
  • Senge, P. (1990): The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization. Doubleday.
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