Einleitung: Warum die Frage verständlich – aber falsch gestellt ist
In einer E-Mail erhielt ich kürzlich folgende Frage:
„Ich suche in euren Unterlagen nach der Rolle und den Aufgaben des OKR Owners. Im Netz finde ich einiges dazu – teilweise mit viel Verantwortung und Entscheidungsmacht. Wie passt das zusammen?“
Die kurze Antwort lautet:
Gar nicht. Es gibt keinen OKR Owner. Und es darf auch keinen geben.
Die lange Antwort – und darum geht’s in diesem Artikel – hat mit Emergenz, Teamarbeit und dem wissenschaftlichen Verständnis komplexer Systeme zu tun.
1. OKR lebt von Emergenz – und Emergenz entsteht nur im Team
Sobald wir verstanden haben, dass OKR ausschließlich die rote, komplexe Welt adressiert, wird vieles klarer.
Komplexe Probleme lassen sich nicht durch einzelne Held:innen lösen – sondern durch die Interaktion vieler.
Das ist kein agiles Wunschdenken, sondern solide wissenschaftlich unterfüttert:
- Komplexität bedeutet Unvorhersehbarkeit und fehlende Kausalität. Lösungen entstehen im Prozess, nicht durch vorherige Planung.
→ vgl. Unterscheidung „kompliziert vs. komplex“ nach Wohland in OKR kurz & klar, S. 10–14
- Kreativität, Ideen und Problemlösungen entstehen immer im Kollektiv – nie in Einzelpersonen.
→ vgl. Prinzip der Team-Orientierung und Selbstorganisation, OKR kurz & klar, S. 20–21, 29–30
- Dynamisch-robuste Höchstleistung entsteht ausschließlich durch lose Kopplung und gegenseitige Beeinflussung (top-down und bottom-up) – nicht durch Delegation und individuelle Verantwortung.
→ vgl. Loosely Coupled Prinzip, OKR kurz & klar, S. 32–34
Kurz:
Komplexität fordert Emergenz – Emergenz fordert Teamarbeit – Teamarbeit verbietet Einzel-Owner.
2. Warum Owner-Modelle Emergenz verhindern
Viele Managementansätze kommen aus der „blauen“, komplizierten Welt. Dort gilt:
- jemand ist verantwortlich,
- jemand trifft Entscheidungen,
- jemand berichtet über Fortschritt.
Für eine Fertigungsstraße ist das perfekt.
Für komplexe Wertschöpfung jedoch fatal.
Wenn Du einen Moal Owner, Objective Owner oder Key Result Owner definierst, passiert Folgendes:
a) Fokus verengt sich auf das “Eigene”
Der Owner schaut auf „sein“ Key Result, statt auf das gemeinsame Ziel.
Team-Mechaniken wie Swarming, kollektive Priorisierung oder emergente Lösungsentwicklung brechen sofort zusammen.
b) Die Verantwortung verschiebt sich vom Team zur Einzelperson
Damit widersprichst Du dem zentralen Wirkprinzip von OKR:
→ „Teams arbeiten autonom und selbstorganisiert an ihren OKR.“
c) Kreativität nimmt messbar ab
Psychologisch sauber belegt (u. a. durch Deci & Ryan, 1985):
Sobald Verantwortung extrinsisch zugewiesen wird („Du bist dafür verantwortlich“), sinkt die intrinsische Motivation der anderen.
Und OKR basiert vollständig auf Autonomy, Mastery & Purpose (nach Daniel Pink).
d) Das System kippt in Delegation statt Selbstorganisation
Delegation gehört zur blauen Welt und ist im OKR explizit ausgeschlossen.
→ „Es kann keine delegierten Ziele geben.“
3. Ein Owner macht OKR unwirksam, weil er das System in Blau zieht
Im OKR Praxisbuch wird die Blau-Rot-Logik noch einmal klar dargestellt:
→ Blau = kausal, planbar, delegierbar
→ Rot = komplex, emergent, kollaborativ
(OKR Praxisbuch, Rot-vs-Blau Seiten)
Ein einziger Owner zieht das gesamte System in die blaue Welt:
Das Ergebnis ist vorhersehbar:
OKR verliert seine Wirksamkeit.
4. Was stattdessen gilt: Ein OKR gehört immer dem Team
Die OKR-Literatur ist an dieser Stelle eindeutig:
- „Jedes OKR gehört der Gruppe, die es vereinbart hat.“ (OKR kurz & klar, S. 33 )
- „Die letzte Ebene sind immer Team-OKR, niemals individuelle OKR.“ (OKR kurz & klar, S. 21 )
- Swarming, gemeinsame Hypothesenbildung, Drafting-Phase, Weeklys – alle Prozessschritte sind bewusst teamzentriert aufgebaut. (siehe z. B. OKR-Planning-Poster und Moderationskapitel im Praxisbuch)
Das heißt:
▶ Das Team formuliert gemeinsam.
▶ Das Team commitet sich gemeinsam.
▶ Das Team lernt gemeinsam.
▶ Das Team verantwortet gemeinsam.
5. Und was ist mit Rollen wie OKR Master oder OKR Leader?
Gute Frage – und hier liegt oft der Denkfehler:
- Der OKR Master begleitet den Prozess, nicht die Inhalte.
- Der OKR Leader verantwortet die Orientierung (wie Vision & Purpose, HED, MED, Moal), "ownt" diese aber nicht.
Die eine Rollen facilitiert, die andere orientiert, aber beide ownen nichts.
Das ist ein fundamentaler Unterschied – und das, was viele Blogartikel übersehen (besonders jene, die “OKR Owner” promoten).
6. Warum das Internet trotzdem von „OKR Ownern“ spricht
Ganz einfach:
- Viele Quellen basieren auf alten MbO-Konzepten.
- Andere basieren auf skalierten Systemen wie SAFe, die Delegation benötigen, um stabil zu funktionieren.
- Viele OKR Beratungen haben nicht die wissenschaftliche Fundierung, die es benötigt, um komplexe, soziale Systeme zu verstehen.
- Wieder andere sind SEO-optimierte Coaching-Artikel ohne wissenschaftlichen Unterbau.
OKR im Sinne von Grove, Doerr und vor allem der Weiterentwicklung im europäischen Raum (u. a. durch die.agilen) ist jedoch klar:
❌ Kein Moal Owner
❌ Kein Objective Owner
❌ Kein Key Result Owner
❌ Kein OKR Owner
✅ Ein Team.
✅ Ein gemeinsames Commitment.
✅ Ein emergentes Vorgehen.
7. Fazit: OKR Owner klingt gut – zerstört aber das, was OKR wirksam macht
Wenn Du OKR wirklich nutzen willst – nicht nur als Zielsystem, sondern als agiles Betriebssystem für komplexe Strategiearbeit – dann führt kein Weg daran vorbei:
➡️ Nur Teams können komplexe Probleme lösen.
➡️ Nur Teams können emergentes Verhalten erzeugen.
➡️ Nur Teams können Outcome-Hypothesen validieren.
➡️ Nur Teams können OKR ownen.
Ein Owner wäre ein Rückfall in altes Systemdenken – und damit der Anfang vom Ende wirksamer OKR.
8. Und die Antwort auf die E-Mail?
„Du findest keinen OKR Owner in unseren Unterlagen, weil es diese Rolle im OKR nicht gibt – und nicht geben darf. OKR funktioniert nur, wenn Teams gemeinsam Verantwortung übernehmen und emergent Lösungen entwickeln. Jede Form von Einzelverantwortung zerstört diesen Mechanismus.“

