Gerald Hüthers Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ ist kein Managementbuch. Und trotzdem erklärt es besser als viele Organisationsratgeber, warum klassische Zielsysteme scheitern - und warum OKR funktionieren kann, wenn es richtig verstanden wird.
Hüther betrachtet den Menschen aus neurobiologischer Perspektive. Er fragt nicht: Wie steuern wir Menschen effizienter?
Sondern:
Unter welchen Bedingungen können Menschen ihr Potenzial entfalten?
Genau diese Frage steht - implizit - auch im Zentrum von OKR.
1. Hüthers zentrale These: Menschen verlieren ihr Potenzial in fremdbestimmten Systemen
Hüther beschreibt, dass Menschen mit einem enormen Entwicklungs- und Gestaltungspotenzial geboren werden. Dieses Potenzial entfaltet sich jedoch nur dann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind:
- Sinn
- Beziehung
- Selbstwirksamkeit
- Gestaltungsfreiheit
Fehlen diese Bedingungen, passiert neurobiologisch Folgendes:
- Das Gehirn schaltet auf Anpassung statt Gestaltung
- Kreativität wird reduziert
- Lernen wird oberflächlich
- Verantwortung wird vermieden
Oder wie Hüther es sinngemäß formuliert:
Der Mensch wird nicht dümmer - er wird vorsichtiger.
Viele Organisationen sind genau so gebaut:
- Ziele werden vorgegeben
- Leistung wird kontrolliert
- Fehler werden sanktioniert
- Sinn wird behauptet, aber nicht erlebt
Das Ergebnis ist Funktionieren statt Entfaltung.
2. Das eigentliche Problem klassischer Zielsysteme
Hüther kritisiert nicht Ziele an sich.
Er kritisiert Zielsysteme, die auf Fremdsteuerung beruhen.
Typische Muster:
- „Diese Ziele musst Du erreichen“
- „Daran wirst Du gemessen“
- „Wenn Du scheiterst, hat das Konsequenzen“
Neurobiologisch bedeutet das:
- Aktivierung des Angstsystems
- Fokus auf Absicherung
- Minimierung von Risiko
- Reduktion von Verantwortung
Genau hier liegt der Kern vieler OKR-Missverständnisse:
OKR wird oft wie ein besseres Zielvereinbarungssystem eingesetzt - und verliert damit seine Wirkung.
3. OKR richtig verstanden: Entfaltungsarchitektur statt Zielkontrolle
In OKR kurz & klar beschreiben wir OKR explizit nicht als Zielsystem, sondern als:
„Denkhaltung & Rahmenstruktur für Kommunikation in komplexen Umfeldern.“
Das ist entscheidend.
Denn OKR adressiert genau die Bedingungen, die Hüther als Voraussetzung für Potenzialentfaltung beschreibt.
4. Vision & Purpose: Sinn ist kein Nice-to-have
Hüther zeigt sehr klar:
Menschen entfalten ihr Potenzial nur dann, wenn sie einen Sinn in ihrem Handeln erkennen.
Wir schreiben:
„Ohne Vision & Purpose kann OKR nicht wirksam sein.“
Vision & Purpose sind im OKR keine Marketingbotschaften, sondern:
- emotionale Orientierung
- Antwort auf das „Wofür?“
- Andockpunkt für intrinsische Motivation
Neurobiologisch gesprochen:
Vision & Purpose aktivieren das Belohnungssystem statt das Angstsystem.
5. Verantwortung kann man nicht delegieren - weder laut Hüther noch laut OKR
Ein zentraler Gedanke bei Hüther lautet:
Verantwortung entsteht nicht durch Zuweisung, sondern durch innere Zustimmung.
Exakt deshalb gibt es in unserem OKR-Ansatz:
- keine delegierten Ziele
- keine individuellen OKR
- keine Zielvorgaben von oben nach unten
Teams formulieren ihre Objectives selbst.
„OKR funktioniert nur über Selbstverpflichtung - nicht über Zielzuweisung.“
(OKR - Das Standardwerk zur agilen Strategiearbeit)
OKR schafft den Raum, in dem Verantwortung entstehen kann, statt sie einzufordern.
6. Outcome statt Output: Warum Wirkung Selbstwirksamkeit erzeugt
Hüther beschreibt Selbstwirksamkeit als einen der stärksten Treiber für Entwicklung:
Menschen wollen erleben, dass ihr Handeln etwas bewirkt.
OKR setzt genau hier an:
- Keine Tasks als Ziele
- Keine Aktivitäten als Erfolg
- Sondern Outcomes: Verhaltensänderungen von Menschen
„Key Results messen Wirkung, nicht Leistung.“
Wenn Teams sehen:
- Unser Handeln verändert etwas
- Unser Experiment hatte Wirkung
- Wir lernen aus dem, was nicht funktioniert hat
entsteht genau das, was Hüther beschreibt: Potenzialentfaltung durch Selbstwirksamkeit.
7. Lernen braucht Sicherheit - nicht Bewertung
Hüther zeigt klar:
Angst blockiert Lernen.
OKR (richtig eingesetzt):
- trennt Zielarbeit von individueller Bewertung
- akzeptiert Nichterreichung als Lernsignal
- nutzt Retrospektiven statt Schuldzuweisung
„OKR ist ein Lernsystem, kein Bewertungssystem.“
Damit entsteht psychologische Sicherheit - eine Grundvoraussetzung für Lernen in komplexen Systemen.
8. Moal: Gemeinsame Zukunftsbilder statt individueller Optimierung
Ein oft unterschätzter Aspekt bei Hüther:
Menschen entfalten ihr Potenzial besonders dann, wenn sie Teil von etwas Größerem sind.
Das Moal erfüllt genau diese Funktion:
- kein KPI
- kein Ziel
- kein Plan
Sondern:
Ein geteiltes mentales Bild der Zukunft.
„Das Moal ist Orientierung, kein Anspruch.“
Es schafft kollektiven Sinn - und damit kollektive Motivation.
9. Hüther erklärt, warum OKR scheitert - und warum es wirken kann
Hüthers Buch liefert keine Anleitung für OKR.
Aber es erklärt sehr präzise:
- warum Zielvorgaben nicht funktionieren
- warum Kontrolle Motivation zerstört
- warum Lernen ohne Sicherheit unmöglich ist
- warum Sinn nicht verordnet werden kann
OKR - in unserem Verständnis - ist die organisatorische Übersetzung genau dieser Erkenntnisse.
Fazit: Hüther liefert das „Warum“, OKR das „Wie“
Gerald Hüther beschreibt:
Was Menschen brauchen, um sich zu entfalten.
OKR beschreibt:
Wie Organisationen Strukturen schaffen können, in denen genau das möglich wird.
Oder zugespitzt:
Hüther zeigt, warum klassische Organisationen Menschen klein machen.
OKR zeigt, wie Organisationen Menschen groß werden lassen können.
Quellen
- Hüther, G. (2013). Was wir sind und was wir sein könnten. S. Fischer Verlage.
- Lobacher, P. & Jacob, C. (2022). OKR - Das Standardwerk zur agilen Strategiearbeit.
- Lobacher, P. & Jacob, C. (2024). OKR kurz & klar.
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The “what” and “why” of goal pursuits. Psychological Inquiry.

